Interview mit Ignatz Bubis
Immer der nächste Termin.

fOLIUM: Sie bezeichnen sich selbst als deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens. Inwieweit gilt das auch für die Mehrheit der deutschen Juden, die sie kennen ? Und wie erklären Sie sich die häufige Vermischung zwischen Religion und Staatsbürgerschaft in bezug auf deutsche Juden ? Bubis: Sie müssen hier unterscheiden. Zum einen, wie sehen sich die Juden selbst und zum anderen, wie werden sie gesehen. Die Mehrheit der in Deutschland geborenen und in Deutschland lebenden Juden sehen sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, zumindest war das bis 1990 so. Bis dahin lebten 28.500 Juden in Deutschland, 90 % von ihnen waren deutsche Staatsbürger. Jedoch nicht immer bereits seit Jahrhunderten, denn das was in Jahrhunderten mal entstanden war - ein deutsches Judentum - das hat es nach 1945 nicht mehr gegeben. Die deutschen jüdischen Gemeinden nach '45 wurden von osteuropäischen Juden gegründet. Deren Nachkommen - wir haben inzwischen zwei Generationen Nachkriegsgeborene - sehen sich überwiegend als deutsche Juden, als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Dabei ist "deutscher Staatsbürger" so etwas wie ein Mittelding. Sie sehen sich nicht direkt als deutsche Juden, weil sie nicht seit Generationen dazu gehören. Wir haben aber seit 1990 eine starke Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. In den letzten Jahren haben sich die jüdischen Gemeinden mehr als verdoppelt und die Zahl der Juden in Deutschland ist auf 65.000 angewachsen. Das heißt 37.000 sind in den letzten sieben Jahren eingewandert. Das sind eindeutig keine deutschen Juden. Sie fühlen sich als Juden in Deutschland. Aber von der nichtjüdischen Seite kommt es zu einer Vermischung. Die Mehrheit der Nichtjuden sieht in dem Juden einen Ausländer, einen Fremden oder einen Israeli. Das hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, daß im Judentum Religion und Volk eine Einheit sind. Wer der Religion nach Jude ist, ist auch Angehöriger des jüdischen Volkes. Das hat aber nichts mit Israelis zu tun. Viele verwechseln Israeliten - Religion - mit Israeli - Staatsbürgerschaft. 25 % der israelischen Staatsbürger sind keine Juden. Die meisten Nichtjuden in Deutschland glauben aber das jeder Israeli Jude sei und man nur Israeli sein kann, wenn man Jude ist. Es gibt auch in Deutschland geborene Christen, die israelische Staatsbürger sind. Es gibt natürlich Moslems, aber es gibt genauso griechisch-orthodoxe oder russisch-orthodoxe, die israelische Staatsbürger sind. Man muß also unterscheiden. Es gibt amerikanische Juden, die sind der Nationalität nach Amerikaner und der Religion nach Juden. Und so gibt es französische Juden, deutsche Juden und es gibt israelische Juden.

fOLIUM: Sie sprachen die Zuwanderung der Juden aus der ehemaligen UdSSR an. Wie wirkt sich diese Zuwanderung auf die jüdischen Gemeinden in Deutschland aus und inwieweit handelt es sich bei den Zugewanderten überhaupt um religiöse Juden ?
Bubis: Zunächst einmal ist es so, daß diese Menschen Juden sind, aber nicht in der Religion gelebt haben. 80 Jahre Kommunismus und Atheismus haben da etwas bewirkt. Die orthodoxen Juden, die sich ihren Glauben dennoch bewahrt haben, die gehen nach Israel und in die USA, aber kaum nach Deutschland. Die, die nach Deutschland kommen, sind im Glauben nicht sehr tief verwurzelt. Wir versuchen ihnen Judentum beizubringen, wir versuchen die Kinder in Religion zu unterrichten und wir versuchen ihnen aufzuzeigen, wie sie jüdisch leben können. Das gelingt uns zum Teil bei denjenigen, die aufnahmebereit sind, aber es gibt auch welche, die sagen, Religion interessiert mich nicht. Ich bin zwar Jude und lebe in der jüdischen Gemeinschaft, aber in der Synagoge habe ich nichts verloren und zum Rabbiner muß ich auch nicht gehen. Allerdings beim Heiraten ist die Tradition sehr stark, so daß die meisten doch zu einem Rabbiner gehen, um zu heiraten.

fOLIUM: Es gibt Stimmen, die eine Regulierung der Einwanderung fordern. Wie stehen Sie dazu ? Könnten Sie sich eine Form der Regulierung vorstellen ?
Bubis: Ich bin überhaupt für eine geregelte Einwanderung - für ein Einwanderungsgesetz. Wenn es dabei auch zu Regulierungen der Einwanderung von Juden kommen sollte, habe ich damit keine Probleme. Aber nur im Zusammenhang mit einem allgemeinen Einwanderungsgesetz.

fOLIUM: Wenn man den Flugblättern und anderen Äußerungen einiger Hochschulgruppen Glauben schenkt, hat es in den vergangenen Jahren einen starken "Rechtsruck" an den deutschen Hochschulen gegeben. Ist das ein Eindruck, den Sie auf Grund Ihrer zahlreichen Auftritte an deutschen Hochschulen teilen können ?
Bubis: Es ist tatsächlich so, daß noch bis vor zehn Jahren die Professorenschaft eher links war. Das waren die, die den Marsch durch die Institutionen 1968 angetreten haben und auch in die Hochschulen gegangen sind. Das hat sich gewandelt. Man findet heute gerade in der Professorenschaft einen Ruck nach rechts. Ich kann nicht erklären, womit das zusammenhängt, aber es ist effektiv feststellbar. Unter den Studierenden ist die Linke schwächer geworden, aber die Rechte hat nicht zugenommen. Es ist eher eine Zunahme der Gleichgültigkeit der Studentenschaft.

fOLIUM: Was halten Sie von Aufforderungen aus Israel - wie sie unter anderem vom israelischen Präsidenten Weizmann bei seinem letzten Deutschlandbesuch geäußert wurden - an deutsche Juden, Deutschland zu verlassen ?
Bubis: Man muß hier unterscheiden. Einmal sagt Weizmann überall wo er hinkommt, ob in Amerika, in Frankreich oder in Deutschland, die Juden sollen alle nach Israel gehen. Er sagt nach 2000 Jahren gibt es einen jüdischen Staat und deshalb sollen alle Juden nach Israel gehen. Das ist die Haltung eines Zionisten. Ich respektiere sie, aber ich teile sie nicht. Wenn er sagt die Wurzeln des Judentums kommen aus Israel hat er recht, aber auch 2000 Jahre Diaspora haben Bindungen geschaffen, Wurzeln geschaffen, so daß nicht alle Juden nach Israel gehen wollen. In Deutschland kommt hinzu, daß Weizmann sagt, daß er es nicht versteht, wie jemand, der das Konzentrationslager, das Arbeitslager, das Vernichtungslager überlebt hat, noch weiter in Deutschland leben mag. Auch das muß man respektieren. Diese Frage stellt nicht nur Weizmann, diese Frage kriege ich, wenn ich in Frankreich, in Holland oder in Amerika einen Vortrag halte häufig gestellt und zwar nicht von Juden, sondern von nichtjüdischen Franzosen, Holländern und Amerikanern. Es ist eine Frage die natürlich diejenigen, die nicht hier leben stellen, weil sie das nicht begreifen können. Viele Freunde von mir, die ich besuche in Amerika, mit denen ich nach dem Krieg in Deutschland war, die aber 1946/48 ausgewandert sind, die fragen: "Wie konntest Du in Deutschland bleiben?". Und ich muß Ihnen etwas sagen, ich selbst stelle mir heute manchmal die Frage, nicht wie kannst du heute in Deutschland leben, sondern wie hast du es damals fertig gebracht, in Deutschland zu bleiben. Diese Frage stelle ich mir heute, die habe ich mir früher nie gestellt.

fOLIUM: Haben Sie eine Antwort gefunden ?
Bubis: Nein. Die Antwort lautet wahrscheinlich, "weil ich meine Vergangenheit verdrängt habe".

fOLIUM: Sie sind Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP, Abgeordneter im Frankfurter Rathaus und Eigentümer zahlreicher Immobilien. Wie schaffen Sie dieses Pensum ?
Bubis: Was die Immobilien betrifft, da habe ich ein Büro, daß Gott sei Dank funktioniert. Ansonsten schaffe ich das nur, weil ich einen 18-Stunden-Tag habe. Für mich ist heute eine Erholung, weil ich in einer Stunde (Zeitpunkt des Interviews: ca. 22.00 Uhr) im Bett liegen werde. Wenn ich jetzt in Frankfurt wäre, würde ich noch drei bis vier Stunden in mein Büro gehen.

fOLIUM: Das bedeutet wieviel Schlaf pro Tag ?
Bubis: Vier, maximal fünf Stunden. Letzte Nacht war ich krank, da war ich acht Stunden im Bett und fühlte mich heute morgen wie gerädert.

fOLIUM: Was treibt Sie dazu ?
Bubis: Immer der nächste Termin. - Ich sag's Ihnen. Ich habe mich gestern schrecklich gefühlt, so daß ich es fertig gebracht habe, mich um 16.00 Uhr ins Bett zu legen. Ich bin allerdings um 18.00 Uhr wieder aufgestanden, weil ich noch eine Veranstaltung hatte, die mir wichtig war. Als ich gegen 21.00 Uhr zurück kam, war ich nur noch bis Mitternacht in meinem Büro. Darauf hat meine Frau mich gefragt, ob ich Fieber hätte. Da habe ich gesagt, "Wahrscheinlich nein". Da hat sie mich gefragt, "Hast Du gemessen". Sage ich, "Nein ich will nicht messen, ich könnt' ja welches haben". Ich hatte dann gestern noch den Arzt bei mir, der hat mir eine Apotheke mit gegeben. (Bubis beginnt aus seinen Sakkotaschen alles mögliche hervorzuzaubern) Das hier ist Aspirin für die Nacht, das ist Antibiotika, das ist etwas gegen mein Reißen im Knie und dann habe ich noch das hier für die Nase und dann muß ich hier noch irgendwo eine Tablette haben, auch für die Nase. In meiner Aktentasche habe ich noch etwas gegen einen Gehörsturz beim Fliegen, weil die Ohren auch angegriffen sind. Der Arzt hat mich also versorgt. Warum das alles? Nun ich hätte sonst absagen müssen. Bevor ich her kam, war ich bei Göttingen in einer evangelischen Akademie auf einem Seminar zum Thema "Jüdisches Leben in Deutschland". Da waren Teilnehmer auch aus Polen und Israel, deshalb wollte ich nicht absagen. Dann hätte ich hier absagen müssen. Und morgen hätte ich eine Mahnmaleinweihung eines unbekannten KZ's absagen müssen. Danach habe ich noch ein Gespräch bei der "Woche" und dann fliege ich nach Düsseldorf, weil der Hajo-Friedrichs-Preis vom WDR vergeben wird und ich die Laudatio halte. Das alles hätte ich absagen müssen. Was meine Tätigkeit im Bundesvorstand der FDP betrifft, die nehme ich sehr ernst, ebenso meinen Sitz im Magistrat. Aber Magistrat war mein Traum, ich wollte schon immer Magistratsmitglied in Frankfurt sein.

aus fOLIUM 4/97