Interview mit Björn Engholm.

Die Vision einer überschaubaren Region

fOLIUM: Sie zählten zu den ersten Politikern, die von einer Vision des 'Mare Balticum' als einer Region aufblühender Wirtschaft und Kultur sprachen. Wie sah diese Vision aus und inwieweit ist sie bereits Wirklichkeit geworden?
Engholm: Die Grundidee kann man am besten verwirklichen, wenn man einen Atlanten aufschlägt, bei Kopenhagen einen Zirkel ansetzt und einen Bogen von ca. 400 km drumherumschlägt. Dann sieht man auf einmal, daß der Bogen nicht 'mal bis nach Kassel runterreicht, aber er umfaßt fast schon Oslo, reicht über Stettin hinaus und geht bis an die litauische Grenze heran. Wenn man das sieht und das Meer noch hinzunimmt, dann weiß man auf einmal, daß ist ein Lebenszusammenhang, der historisch schon immer eine große Bedeutung für die Menschen dieser Region gespielt hat und der überschaubar ist. Um es ökonomisch zu sagen, in diesem Radius kann auch ein Kleinunternehmer operieren. Das war damals ein Grundgedanke. Wie haben uns gefragt, gab es das schon geschichtlich und die Antwort lautet: ja das gab es, nämlich in Form der Hanse. Bei allen Untaten die die Hanse auch begangen hat, muß man bedenken, daß ihre Geschichte im 12 Jahrhundert begann. Also in einer finsteren Zeit. Die Menschen waren noch ganz eng, zum Teil noch sehr mythisch, zum Teil noch richtig runtergebrettert durch den alten Glauben. Und zu dieser Zeit sind Leute einfach über alle Grenzen hinweggefahren, haben Handel und Wandel getrieben, Sprachen verbreitet und Kulturgüter mitzurückgebracht. Mein Gedanke war daher, diese Vision einer Region, die für Menschen überschaubar ist, die muß man wiedernentwickeln. Ein anderer Gedanke war auch den Ostseeanrainer-Staaten des ehemaligen Ostblocks, wie den Polen oder den Balten zu sagen, wo sie als Kooperationspartner hingehören. Nämlich nicht nach China, sondern zum Norden. Es war von daher auch eine Investition in die beginnende Öffnung dieser Staaten, die diesen Gedanken dann ja auch mit Begeisterung aufgenommen haben. Es war insofern auch ein Vision von dem, was wir als Land vor der eigenen Haustür machen können. Und immerhin haben wir - Schleswig-Holstein - es geschafft, diese Idee in den gesamten Norden zu verbreiten. Eine Idee also, die in Kiel geboren wurde und aus der sich inzwischen unglaublich viel entwickelt hat. Es gibt inzwischen ein breites Netzwerk an Verbindungen, Beziehungen, Verbänden und Vereinigungen. Ungefähr 70 nordisch-multinationale Organisationen. Die Vision ist von daher ein gutes Stück Realität geworden.

fOLIUM: Würden Sie sagen, daß es einen gemeinsamen Kulturraum der Ostseebewohner gibt? Inwieweit haben die letzten 50 Jahre in den östlichen Anrainerstaaten ihre Spuren hinterlassen?
Engholm: Wenn man die letzten 50 Jahre geopolitische oder geostrategisch betrachtet, dann ist das faszinierende, daß die Ostsee ein relativ friedliches Meer gewesen ist. Im Gegensatz zum Pazifik oder Atlantik. In der Ostsee hat es keine wesentlichen Auseinandersetzungen gegeben. Selbst in den finstersten Zeit des Staatssozialismus hat es kulturelle Beziehungen über das Meer hin und zurück gegeben. Ausgenommen die Balten, die von den Russen sehr eng gehalten wurden. Aber nach Polen oder Mecklemburg-Vorpommern hat es diese Beziehungen immer gegeben. Ich denke das ist eine Sonderrolle der Ostsee, die kein anderes Meer in dieser Form bisher gehabt hat. Ob es aber eine Nordische Identität gibt - das würde ich so nicht sagen. Die Litauer haben ihre eigene Identität und die Schweden haben ihre eigene. Aber es gibt mehr Identifikationen untereinander, als etwa zwischen Dänen und Italienern. Das hängt einfach mit der Geschichte, mit den Vernetzungen in dieser Geschichte zusammen. Wenn man allein die Verflechtungen der dänischen, schwedischen, russischen und holsteinischen Adelshäuser bedenkt, dann sieht man, daß es in der Geschichte ein extrem nordisches Netzwerk gegeben hat. Im Guten, wie im Bösen. Das hat meiner Ansicht dazu geführt, daß es mentale Ähnlichkeiten gibt, wenn vielleicht auch nur rudimentär. Es gibt auch gemeinsame historische Ereignisse, auf denen man eine Identität aufbauen könnte. Also es gibt Identifikationen geschichtlicher und kultureller Art, aber keine gemeinsame Identität. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man so eine überhaupt will.

fOLIUM: Inwieweit würden Sie in dieser Entwicklung zu großen europäischen Regionen einen bewußten Gegensatz zu der immer stärker zentralistisch geprägten Europäischen Union sehen?
Engholm: Ich würde schon sagen, daß das eine zumindest emotionale Gegenbewegung ist. Die zentrale Ausrichtung der EU führt hier fast automatisch zu mehr Autonomiebestrebungen in den Regionen. Regionen muß man hier schon sagen, weil der Norden nicht nur aus Staaten besteht. Der Norden das ist auch Schleswig-Holstein, das ist Mecklemburg-Vorpommern, das ist die polnische Ostseeküste. Die Warschauer denken da zum Beispiel ganz anders. Sie sind mehr in Richtung Süden und Westen ausgerichtet.

fOLIUM: Kann die Ostsseeregion eine Hilfe für Rußland bei seinen aktuellen Problemen sein?
Engholm: Die Ostseeanrainerschaft kann Hilfe leisten in den extrem westlichen Teilen Rußlands, also insbesondere in Königsberg/Kaliningrad und St. Petersburg. Mehr kann sich der Norden im Moment nicht zutrauen, denn Rußland in ein schwieriges, schwer überschaubares Feld. Aber da wo es traditionelle Beziehungen gibt und auch in den letzten 50 Jahren gegeben hat - das sehr abgekapselte Kaliningrad mal ausgenommen -, da kann die Ostseeanrainerschaft helfen und da gibt es auch eine Fülle von Beziehungen. Es gibt inzwischen Joint Ventures, wo junge litauische Unternehmer in Königsberg investieren. Es ist also auch nicht nur eine Frage der westlichen Nationen. Auch die Polen, die den größten ökonomischen Fortschritt gemacht haben, sind inzwischen eifrig in den baltischen Staaten und in Rußland tätig. Es beginnt sich hier ein Netzwerk zu entwickeln und wenn man das koordiniert nur auf die westlichen Teile Rußlands an der Ostsee betreibt, dann denke ich ist das sehr hilfreich. Man kann sich in Rußland auch nur kleine überschaubare Brocken herausgreifen und kann an denen gemeinsam arbeiten. Ganz Rußland zu einer Totalinnovation zu kriegen, wer wollte das schaffen. Das ist eine Weltaufgabe und die wird gegenwärtig nicht begriffen. Das ist meine Befürchtung. Im Grunde kann man sagen, der politisch vergessenste Kontinent ist Afrika und der zweitvergessenste Erdteil ist Rußland. Es gibt heute keine erkennbare deutsche Ostpolitik. Wir sind berühmt geworden durch unsere Ostpolitik, auch im Streit zwischen den Parteien. Aber Brandts Ostpolitik war ein Meilenstein der Weltpolitik. Da ist richtig was gedacht, was organisiert worden. Und wie wir heute wissen hat es auch zu etwas geführt. Es gibt aber keine neuere Ostpolitik dem heutigen Rußland gegenüber, es ist irgendwie terra incognita. Es gibt keine politische Einbindung in die Völkergemeinschaft und man muß schon mit Sorgfalt beachten, was die Aufnahme der Esten in die NATO bedeuten wird. Die Esten sitzen direkt an St. Petersburg. Ob da die Antwort einer klassischen westlichen Verteidigungsgemeinschaft Rußland gegenüber so aussehen muß, da bin ich immer noch im Zweifel. Ich versteh den Wunsch der Esten unter ein sicheres Dach zu kommen. Was das aus der Sicht der Russen bedeutet, wird bei uns fast nicht diskutiert. Für die Russen ist das das Festzurren eines großen westlichen Sieges. Ich glaube das wird in Rußland mehr negative Stimmung freisetzen, als uns lieb ist. Rußland ist einfach zu weit aus der politischen Betrachtung geraten.

Auszug aus: fOLIUM 4/98