fOLIUM: Herr Bundesverfassungsrichter Sommer, in den letzten eineinhalb
Jahren ist das Bundesverfassungsgericht (BverfG) wieder verstärkt Schauplatz
politischer Entscheidungen geworden. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit
es im Sinne des Grundgesetzes ist, daß ein nicht unmittelbar demokratisch
legitimiertes Organ die Entscheidungen des unmittelbar demokratisch legitimierten
Gesetzgebers aufheben kann.
Sommer: Zunächst möchte ich sagen, daß ich mich nicht als Politiker in Robe
sehe. Zur Frage, inwieweit das BVerfG im Sinne des Grundgesetz handelt, wenn
es die Politik betreffende Entscheidungen fällt, läßt sich feststellen, daß
die Stellung des BVerfG, so wie sie heute ist, im Grundgesetz festgeschrieben
ist. Alle hier betroffenen Verfahrensarten sind Bestandteil des Grundgesetzes,
insofern ist dieses Spannungsverhältnis zwischen Legislative und der Kontrolle
dieser gesetzgeberischen Tätigkeit durch das BVerfG im GG selbst angelegt.
Die Frage, ob dies im Sinne der Verfassung ist, kann man daher so nicht beantworten.
Es wird allerdings schon länger über das Verhältnis zwischen Demokratie -
als Umsetzung des Volkswillens in Normen - und einer Anbindung dieses gesetzgeberischen
Tätigwerdens, als eine in der Verfassung niedergelegte Rahmenordnung, diskutiert.
Die Gewichtverteilung ist hier umstritten. Am schärfsten tritt dieser Konflikt
bei der abstrakten Normenkontrolle auf. Sie wird immer wieder ins Feld der
Kritik geschoben mit plakativen Formeln wie, "Gang nach Karlsruhe" oder "Fortsetzung
der verlorenen politischen Schlacht im Gewande eines gerichtlichen Verfahrens".
Es tauchen daher immer wieder Forderungen nach Abschaffung der abstrakten
Normenkontrolle auf oder - worüber man sprechen kann - einer Einführung einer
qualifizierten Mehrheit im richterlichen Kollegium. Die Kritik an dieser Verfahrensart
rührt daher, daß sich hier das Verhältnis zwischen Recht und Politik bündelt.
Die starke Stellung, die das BVerfG dabei einnimmt, ist jedoch die Antwort
auf die politische Erfahrung in dem Streit darüber, wer Hüter der Verfassung
ist. In der Weimarer Republik war dies der Reichspräsident. Das Ergebnis kennen
sie. Die Antwort 1949 war daher, die Tätigkeit der Legislative, bzw. auch
das was eine demokratisch legitimierte Legislative zustande bringen kann -
Stichwort: Ermächtigungsgesetz - an einen anderen Hüter der Verfassung zu
binden, nämlich das Verfassungsgericht.
fOLIUM: Was halten sie von der Forderung nach Abschaffung des abstrakten
Normkontrollverfahrens ?
Sommer: Die abstrakte Normenkontrolle aus dem Katalog zu streichen ist faktisch
nicht durchsetzbar und wir können auch weiter mit ihr leben. Die abstrakte
Normenkontrolle ist konzipiert als starker Minderheitenschutz, dieser Schutz
des Unterlegenen kann sich noch als unverzichtbares Instrument erweisen. Wichtig
ist, daß mit dem Instrument der abstrakten Normenkontrolle behutsam umgegangen
wird. Das betrifft alle Beteiligten, schon die Antragsteller sollten sich
überlegen, was sie mit einem solchen Antrag in Bewegung setzen. Auch das Gericht
muß sich aber immer vor Augen halten, daß es auf einem schmalen Pfad wandert,
zwischen Vorrang der Verfassung und dem politischen Meinungskampf, und in
der Gefahr abzustürzen. Deshalb halte ich den Vorschlag für durchaus diskussionswürdig,
im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle eine qualifizierte Mehrheit für
das Gericht einzuführen.
fOLIUM: Offiziell ist jeder Richter unabhängig, doch besteht nicht hier oder
dort eine faktische Abhängigkeit gegenüber der Regierung, bzw. der Politik
im allgemeinen, so bei der Maastrichtentscheidung oder bei dem "Trümmerfrauenurteil"
?
Sommer: Wir müssen die Verfassung auslegen. Wir müssen also aus dem knappen
Text Maßstäbe finden für das, was der Gesetzgeber zu tun hat, um den Anforderungen
der Verfassung zu genügen. Nebenbei gesagt, ich finde es gut, daß der Text
so knapp ist. In letzter Zeit habe ich jedoch das Gefühl, daß das GG aus der
Form gerät. Die Art. 23 und 16a machen deutlich, daß sich eine neue Schicht
an Verfassungsrecht darüber legt, was 1949 und auch mit allen Verfassungsänderungen
bis 1969 eingehalten wurde. Knappe klare Texte, die sich auf das Wesentliche
beschränken. Jetzt kommen zum Teil schon Ausführungsgesetze in das GG hinein.
Nun kann man aus dem knappen Text natürlich viele Maßstäbe entwickeln und
alle wären mit dem Text noch irgendwie zu vereinbaren. Schon in dem, was als
Maßstab entwickelt ist, kommen Präferenzen und Anschauungen derjenigen, die
mit dem Text umgehen müssen hinein. Es wäre unehrlich das zu bestreiten. Der
zweite Schritt ist dann die Umsetzung dieser Maßstäbe in die Praxis. Das Gericht
hat hier im Laufe seiner Tätigkeit eine Fülle von Entscheidungsvarianten entwickelt.
Dies auch in Erwägung, was praktisch möglich ist. Man muß sich dessen bewußt
sein, daß die Tätigkeit des Richters, insbesondere des Verfassungsrichters,
natürlich sehr starke politische Auswirkungen hat. In dem Bewußtsein, daß
dies so ist, muß man sich selbst die Grenzen setzen. Das aber politische Auswirkungen
vorhanden sind, das läßt sich nicht vermeiden. Dabei halte ich im Übrigen
auch das System der Richterwahl für sinnvoll. Zwar werden sie faktisch von
den Parteien vorgeschlagen, doch handeln sie dennoch unabhängig. Die Parteien
haben so schon manche Überraschung mit "ihrem" Kandidaten erlebt.
fOLIUM: Sie führten selbst an, daß in letzter Zeit zum Teil Ausführungsgesetze, aber auch Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz gelangt sind. Inwieweit befürchten sie hier auf Dauer eine Verwässerung der Verfassung ? Sommer: Ich habe große Skepsis gegen Aufblähungen des Grundgesetz im Sinne von Volkspädagogik. Der Vorteil des GG ist es, daß es Punkt für Punkt eingeklagt werden kann. Es verändert daher den Charakter einer Verfassung, wenn sie nicht mehr in diesem Sinne eine strickt anwendbare, durchsetzbare und einklagbare Norm ist, sondern sich vielmehr in Deklarationen, Zielbestimmungen und allgemeinen Grundsätzen ergeht. Bei Staatszielbestimmungen kann man darüber reden. Arbeit und Wohnen sind Ausprägungen des Sozialstaatsprinzips. Eine besondere Betonung hätte sicherlich Konsequenzen. Beim Staatsziel Umwelt besteht tatsächlich Nachholbedarf, da sich hier eine Entwicklung ergeben hat, die man 1949 noch nicht absehen konnte. Was ich aber wirklich als Volkspädagogik oder als reine Deklaration ansehe, ist der mit großem Ernst diskutierte Aufruf zur Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn. Ich will nicht bestreiten, daß da ein Defizit in unserer Gesellschaft besteht, nur frage ich mich, ob sich dadurch irgend etwas ändert, wenn man dieses als Aufruf in die Verfassung schreibt. Ich sehe hier wirklich die Gefahr, daß das Grundgesetz seinen Charakter als einer vollziehbaren und einklagbaren Norm verliert.
fOLIUM: War die § 218 -Übergangsregelung in dieser Form notwendig und sinnvoll,
und inwieweit ist hier das BVerfG als Gesetzgeber und nicht nur als negativer
Gesetzgeber tätig geworden ?
Sommer: Die § 218 - Übergangsregelung ist in der Tat ungewöhnlich, schon in
ihrer Länge. Durch die Teilnichtigerklärung der Regelung ist das Gesetzesgefüge,
das aufeinander abgestimmt ist, gestört. Es werden Lücken gerissen. Das bedingt
die Notwendigkeit, für die Zeit, bis der Gesetzgeber diese Lücke geschlossen
hat, etwas dazu zu sagen, wie denn nun vorgegangen werden soll.
fOLIUM: Sie meinten vorhin, daß mit dem Instrument der abstrakten Normenkontrolle
behutsam umgegangen werden muß. Wird in der Praxis ihrer Meinung nach mit
ihr oder allgemeiner mit der Verfassung behutsam umgegangen ?
Sommer: Zum Teil läßt die Konsensfähigkeit der Parteien zur Zeit zu wünschen
übrig. Das ist aber nichts Neues. Auch werden bisweilen zu schnell Lösungen
in Karlsruhe gesucht, was ja wohl auch bequem ist, da man so die Verantwortung
nicht selbst zu tragen braucht. In der Somalia - Entscheidung, und auch schon
bei dem AWACS - Einsatz, denke ich, hat das BVerfG jedoch den Ball recht klug
an den Bundestag zurückgespielt. Die Verantwortung für derartige Entscheidungen
muß beim Parlament liegen. Im Übrigen liegt die Hauptlast des BVerfG ja nicht
auf politischen Entscheidungen.
aus: fOLIUM 1/94